„Ich helfe, weil ich es kann.“ – Studentin gibt Flüchtlingskindern Nachhilfe

Ein Gastbeitrag von Eva Heer.

Wer Flüchtlinge unterstützen möchte, kann dies in Stuttgart auf vielfältige Weise tun. Eine Möglichkeit bietet die Initiative „Refugees, welcome to Stuttgart“. Die Plattform vermittelt Spenden und persönliche Unterstützung an Flüchtlinge. Die 22-jährige Medya hat sich dort auf eine Anfrage gemeldet. Jetzt sie gibt sie zwei Brüdern aus Bagdad regelmäßig Nachhilfeunterricht in Mathe. Sie will ganz konkret helfen. Aber auch ein Zeichen gegen Vorurteile und Rassismus setzen.

Die Stuttgarter Stadtbibliothek am Mailänder Platz ist an diesem Samstag sonnendurchflutet. Im abgeschotteten Lernraum im zweiten Stock sitzen an einem Ecktisch eine junge Frau und zwei Halbwüchsige, die Köpfe über ein Mathematikbuch und Arbeitsblätter gebeugt. Die junge Frau heißt Medya, ist 22 Jahre alt und Studentin an der Universität Hohenheim. Über die Initiative „Refugees, welcome to Stuttgart“ engagiert sie sich für Flüchtlinge. Die beiden Jungen, Mohamed und Mostafa, sind Brüder, 14 und 16 Jahre alt. Sie leben mit ihrer Mutter in einer Asylunterkunft am Stuttgarter Nordbahnhof. Vor einem Jahr sind sie aus dem Irak geflohen. Was mit ihrem Vater passiert ist, darüber schweigen sie. Auch darüber, wie ihre Flucht verlaufen ist. „Es gibt im Irak keine Sicherheit“, sagt Mostafa. Mehr will er nicht erzählen.

Medya lässt die beiden Jungen Entfernungen von Galaxien in Lichtjahren berechnen und die Lichtjahre dann in Kilometer umrechnen. Trotz des Altersunterschieds von zwei Jahren besuchen sie beide die neunte Klasse einer Hauptschule. Zuvor waren sie einige Monate in Vorbereitungsklassen, um dem Regelunterricht in einer fremden Sprache überhaupt folgen zu können. „Wie viele Nullen hat eine Milliarde?“, will Medya wissen. Die beiden überschlagen die Aufgabe im Kopf. Der ältere Mostafa hat die Lösung schnell. Die Rechnungen machen ihm keine Schwierigkeiten. Nur die Sätze in den Textaufgaben richtig zu verstehen, fällt ihm noch schwer. „Wenn du ein Wort nicht verstehst, lies die Aufgabe nochmal durch oder frag nach“, sagt Medya. Ruhig und geduldig erklärt sie, fragt nach, wo sie Unsicherheit spürt.

Der Tischtennisprofi Timo Boll ist das bewunderte Vorbild von Mohamed und Mostafa, die drei Mal in der Woche zum Tischtennisspielen gehen. Sie mögen Deutschrap und Fußball und zumindest Mostafa hat schon konkrete Berufswünsche: Bauingenieur. Ein Praktikum in einem Architekturbüro hat er in Aussicht. Der jüngere Mohamed möchte auch Ingenieur werden, am liebsten bei Daimler.

Die verzweifelte Situation aus der Menschen fliehen, kennt Medya ganz konkret: Sie ist in den vergangenen Wochen mehrere Male in den Nordirak geflogen. Dort arbeitet sie im „Projekt Sonderkontingent“ der grün-roten Landesregierung, das schwer traumatisierte vergewaltigte Frauen und Kinder aus dem vom IS besetzten Gebiet nach Baden-Württemberg holt. Sie dolmetscht dort und hilft bei Visa-Anträgen. Eine anstrengende Arbeit, physisch wie psychisch. Medya hat kurdische Wurzeln und ist mit ihrer Familie als Kleinkind nach Deutschland gekommen. Ihre Eltern waren politische Flüchtlinge. „Das war aber kein Vergleich dazu, was die Flüchtlinge heute durchmachen“, sagt sie. Die Studentin der Wirtschaftswissenschaften investiert viel von ihrer freien Zeit in das Engagement für andere. „Ich helfe, weil ich es kann. Weil ich die Zeit und die Kraft habe. Und weil ich mir niemals verzeihen würde, nichts getan zu haben“, sagt sie. „Die Flüchtlinge, die ihre größtenteils schreckliche Flucht überlebt haben und glücklich sind, in einem sicheren Land angekommen zu sein, werden hier teilweise mit rassistischem Hass konfrontiert“. Dem möchte die junge Frau mit ihrem Engagement etwas entgegensetzen.

Medya sieht in der Flüchtlingskrise kein unlösbares Problem, sondern eine Chance. „Indem wir vor allem die jungen Flüchtlinge darin unterstützen, bekommen sie die Möglichkeit, die Bildungschancen in Deutschland zu nutzen und nicht auf die schiefe Bahn zu geraten. Dafür bräuchten die Kinder unbedingt Menschen, die ihnen helfen, die neue Kultur und Gesellschaft zu verstehen. Sie möchte anderen unbedingt Mut machen, zu helfen: „Es ist natürlich nicht immer leicht, Zeit für zusätzliches Engagement zu finden“, sagt sie. „Aber es geht. Man hilft durch soziales Engagement nicht nur anderen, sondern bereichert sein eigenes Leben“. Stolz und glücklich macht sie die WhatsApp-Nachricht von Mostafa, der einige Tage nach dem gemeinsamen Lernen in der Stadtbibliothek, seine Klassenarbeit zurückbekommen hat: „Hallo Medya, ich hab die Note gekriegt. 1,5. Der beste in ganze Klasse. Ich schwör“.

Info: „Refugees, welcome to Stuttgart“ ist eine Plattform, die Sachspenden und persönliche Unterstützung für Flüchtlinge vermittelt. Geflüchtete oder deren ehrenamtliche Vertreter geben an, was sie suchen. Auf dieser Facebook-Seite mit derzeit knapp über 14.000 Abonnenten werden Spender oder Helfer gesucht, die direkt an die Flüchtlinge vermittelt werden. So kommen Spender und Empfänger in persönlichen Kontakt.

„Refugees, welcome to Stuttgart“ wurde im November 2014 von zwei Mitgliedern der Stadtisten ins Leben gerufen.

www.facebook.com/refugees.welcome.to.stuttgart

Die Stadtisten

Die Stadtisten sind eine kommunalpolitische Wählergruppe in Stuttgart sowie Aktionsplattform für unterschiedliche Initiativen. Politik, wie wir sie verstehen, bedeutet gemeinsam Lösungen zu finden für die Fragen und Probleme, die die Stadt und das Gemeinwesen betreffen. Dabei benutzen wir Herz, Hand und Hirn, sind ebenso rational wie einfühlsam. Politik braucht Mitgefühl, soziale Wärme und Solidarität. Das, was unsere Herzen bewegt, werden wir aus dem Stadtgespräch in die Politik hineintragen.

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