Von Dora Asemwald.
Immer wieder entfacht die Diskussion zu einem überstrapazierten Wort: Subkultur. Woher kommt der Begriff, was bedeutet er heute und wozu braucht das eine Stadt wie Stuttgart überhaupt? Diesen Fragen möchte ich mal nachgehen.
Subkultur. Ein verbales Ungetüm, von dem jeder glaubt, alleine zu wissen, was es ist, wer dazu gehört, und was es nicht ist. In der Regel sehen sich die meisten als Teil von ihr und grenzen sich dadurch ab: Mainstream, das sind die anderen. Kein Wunder also, dass viel um den heißen Subkulturbrei gestritten wird, wenn gefühlte Definitionen aufeinander prallen.
Vorneweg: Ich verwende den Begriff Kultur im weiten Sinne: Kultur ist nicht nur Musik und Malerei, sondern alles vom Menschen geschaffene.
In den 40er Jahren nutzten Soziologen den Begriff zum ersten Mal um das Phänomen ethnischer Gruppierungen in amerikanischen Großstädten zu beschrieben. Diese Gruppierungen zeichneten sich durch einen eigenen Wertekanon aus, der sich von der vorherrschenden Kultur abgrenzte. Zu Beginn der 70er verschwamm der Begriff mit dem der Gegenkultur, die die primären Werte und Ideale der Mehrheitskultur infrage stellte und sich ganz klar von ihr abgegrenzte. Dieses Bild funktionierte noch ganz passabel, als es diese klar definierte Leitkultur noch gab.
Subkultur in der digitalen Revolution
Ich versuche mal der weiteren Entwicklung des Konzepts der Subkultur mit medientheoretischen Werkzeugen beizukommen. In der grauen Vorinternetzeit gab es eine begrenzte Zahl an Massenmedien, die zentral gesteuert wurden, allen voran der öffentlich-rechtliche Rundfunk, Zeitschriften und Zeitungen. Ein kleiner Kreis an Medienschaffenden entschied, was die Masse serviert bekommt. Sie hatten die aufwändigen Produktionsmittel zur Verfügung, die damals zur Verbreitung von Inhalten notwendig waren. Als Subkultureller war man gezwungen, alternative Low-Budget-Kommunikationswege zu schaffen, um sich als Gruppe zu koordinieren. Über selbstgedruckte Fanzines und Piratensender wurde damals verbreitet, was durch das Raster der großen Medien fiel. Es war aufwändig, Teil einer Szene zu sein, und teilweise auch gefährlich. So wurden bis 1994 laut § 175 die Subkultur der Homosexuellen unter Strafe gestellt. Subkulturen waren relativ homogene, klar gegen die Mehrheitskultur abgegrenzte Szenen, die sich nur selten vermischten und ihre eigenen Kodizes, Sprache, Kleidung und Musik hatten. Für Außenstehende war es schwierig, mehr über sie zu erfahren oder gar in sie hineinzukommen.
Seit dem Aufkommen des Internets ist es einzelnen Subkulturen plötzlich möglich, ohne großen Aufwand eine eigene Öffentlichkeit aufzubauen. Das Netz ermöglicht durch seine dezentrale Struktur, dass sich Informationen ohne großen Aufwand weltweit und sofort verbreiten und somit den Flaschenhals der alten Medien umgehen und überwinden können. Wer heute einen Film veröffentlichen will, nimmt ihn mit seinem Telefon auf und stellt ihn einfach auf Youtube. Über soziale Medien können sich solche Inhalte viral verbreiten und ein größeres Publikum erreichen. Durch den Rückgang der Kontrollmechanismen der alten Medien hat die Mehrheitskultur ihre mediale Monopolstellung verloren. Subkulturen können sich heute der selben Mittel bedienen und sich ebenso verbreiten. Dadurch werden sie aber auch zugänglicher und ihre Grenzen durchlässiger. Heute kann man problemlos mal in die meisten Subkulturen reinschnuppern, ohne sich auf eine festlegen zu müssen. Die Mitgliedschaft in einer Subkultur ist keine Entscheidung mehr, sondern eine Option unter vielen.
Subkultur von der Stange
Mit dem Öffnen und Verschwimmen der Grenzen zwischen den Kulturen wurde es auch einfacher, diese zu kommerzialisieren. Aus dem Streben junger Menschen, ihre Identität über Gruppenzugehörigkeit zu ergründen und zu definieren, lässt sich Geld machen. Heute muss man nicht mehr in versteckte Spezialläden gehen, um sich ein Ramones- oder Motörhead-Shirt zu kaufen. Man geht einfach zu H&M, um sich ein bisschen Punk zu fühlen. Der heutige Mainstream ist ein eklektischer Mix unzähliger Subkulturen, oder besser gesagt, deren Light-Versionen, verwässert zu leicht vermarktbaren Lifestyle-Optionen.
Der Begriff der Subkultur hat an Schärfe verloren und taugt kaum noch zur Beschreibung kultureller Phänomene. Darum hat sich die Bedeutung des Wortes im Sprachgebrauch verschoben und wird heute hauptsächlich im Sinne von kultureller Vielfalt wahrgenommen. Ich versuche mal, eine zeitgemäße Definition des Begriffes zu fassen: Wenn eine Subkultur sich durch die Abgrenzung zur Leitkultur definiert, dann muss man schauen, auf welchem Terrain sich die derzeitige Leitkultur befindet.
Jenseits der Leitkultur
Wir leben in einer wachstumsorientierten Marktwirtschaft, die Leistung über Geld und Glück an Konsum bemisst. Wir produzieren nicht mehr bedarfsorientiert, sondern schaffen Bedürfnisse – zum Beispiel durch kurzgetaktete Moden und Werbung – um noch mehr produzieren zu können. Konsum ist der Motor unserer Gesellschaft und die Basis, auf der unsere Leitkultur fußt. Identität wird über Konsum geformt. Die einen zeigen ihre soziale Zugehörigkeit über Markenkleider und Autos, andere definieren sich über veganen Konsum. Wenn Leitkultur ist, was sich vermarkten lässt und somit den Konsum steigert, dann ist Subkultur das, was sich diesem System entzieht.
Zeitgenössische Subkulturen unterliegen einem evolutionären Prozess. Sie verbreiten sich schnell über das Netz, zersplittern zu Untergruppen, mutieren und werden selektiert. Je nach dem, wie gut eine Subkultur an die jeweiligen Bedürfnisse einzelner Gesellschaftsteile angepasst ist, bekommt sie Zulauf oder stirbt aus. Ist sie besonders erfolgreich, dann wird sie kommerziell interessant und vom Mainstream aufgesaugt. Sie hört auf Subkultur zu sein, wird Teil der Leitkultur und macht Platz für eine neue Subkultur. Darum spielt die Subkultur eine so große Rolle für die Leitkultur: Sie ist Keimzelle neuer Impulse, neuer Trends. Sie ist jene Avantgarde, die die Gesellschaft vorantreibt, die Fortschritt ermöglicht. Und damit paradoxerweise auch zu mehr Konsum führt. Hier beisst sich die Katze in den Schwanz. Kein Wunder also, dass wir uns so schwer tun, Subkultur zu definieren. Subkultur ist nicht greifbar, ein flüchtiger Zustand. Als Protokultur betreibt sie Zwischennutzung im Gebäude der Gesellschaft. Und nur so lange sie nicht zu greifen ist, existiert sie. Sie ist unberechenbar, denn wenn sie berechenbar wird, verschwindet sie. Wenn man glaubt, sie zu kennen, ist sie schon ganz wo anders.
Die Stadt als Keimzelle
Ich meide lieber die Paradoxiefalle des S-Worts und rede von kultureller Vielfalt. Und davon, dass diese Raum braucht. Und von dem gibt’s wenig im Stuttgarter Kessel, der sich in großen Schritten gentrifiziert. In unserer Wirtschaftsmetropole galt bislang das Primat der Rendite: Was Geld in die Stadtkasse bringt, ist gut. Da nimmt man auch leerstehende Abschreibungsobjekte in Kauf, lässt Shoppingmalls sich gegenseitig kannibalisieren und vergräbt Bahnhöfe, weil Gelder von außen winken. Kulturelle Vielfalt braucht Nischen, in der sie gedeihen kann. Nischen ohne unmittelbaren kommerziellen Nutzen, in denen Unberechenbares und Buntes geschehen kann. Eine Stadt braucht Freiräume, um nicht nur zu funktionieren, sondern um zu leben. Und diese Freiräume dürfen nicht sofort zugekleistert werden. Man muss sie einfach dulden und sich daran erfreuen, welche Blüten sie tragen. Eine Stadt braucht den Mut, das Unkonventionelle zu ertragen und es nicht im Keim zu ersticken. Denn nur so kann Neues entstehen, kann eine Stadt fortschrittlich und attraktiv sein – und vielleicht eines Tages daraus auch den mittelbaren kommerziellen Nutzen ziehen. Dazu reicht es nicht aus, ein paar Vorzeigelocations etablierter Ex-Subkultur wie die Wagenhallen zu dulden, um die Stadt besser an die von Gentrifidingsbumspapst Richard Florida beschriebene „kreative Klasse“ zu vermarkten, die angeblich verschlafene Provinznester in pulsierende Metropole transformiert. Ein paar Schritte weiter lebte in ein paar alten Wagons waschechte Subkultur, doch die musste weichen.
Vertane Chance
Stuttgart ist gerade konkret dabei, eine einmalige Chance an die Wand zu fahren. Im Park der Villa Berg verrotten derzeit 20.000qm ehemalige Fernsehstudios, die der SWR aufgegeben hat. Der Besitzer, die Investorengruppe PDI, möchte dort Luxuswohnungen bauen, hat aber nicht das Baurecht dazu. Die Stadtverwaltung will die Studios kaufen und abreisen. „Ich möchte, dass wir der Stadt und ihrer Bevölkerung die Villa und den Park zurückgeben“, sagt OB Kuhn, und verschweigt dabei, dass der Park um die Studios eh schon öffentlich ist und dadurch nur etwas erweitert werden würde. Der Gedanke, dass dies die perfekte Brutstätte für kulturelle Vielfalt sein könnte, scheint ihm fremd oder unerwünscht zu sein. Selbst die Konservativen unterstützen Kuhn mittlerweile in seinem Anliegen. Kulturelle Vielfalt macht Lärm, provoziert und spült kein Geld in die Stadtkasse. Und sie hat keine schlagkräftige Lobby. Eben da werden ihr ihre Diversität, ihre Flüchtigkeit und ihre Kommerzverweigerung zum Verhängnis. Kommunalpolitik soll aber nicht nur potente Interessengruppen bedienen, sondern ebenso die Nischen und Ränder der Stadtgesellschaft. Tut sie aber nicht.
Unsere Chance
Als Kulturschaffende dieser Stadt überlege ich mir, wie wir uns Gehör verschaffen und uns den Raum selbst nehmen können, den wir brauchen. Wir haben weder Geld noch sind wir ausreichend organisiert. Wir haben jedoch Kreativität und den Mut, diese einzusetzen. Wenn wir darauf warten, dass die Stadt uns einen Platz einräumt, können wir ebenso auf Godot warten. Wir müssen uns nicht mal Raum schaffen, denn den gibt es schon – wir müssen ihn nur ausfüllen. Wer hält uns davon ab, den öffentlichen Raum zu unserer Bühne zu machen? Er ist mehr als asphaltierte Transitstrecke zwischen Arbeit, Wohnen und Shopping. Lasst uns sichtbar, hörbar, spürbar werden! Denn erst wenn wir unbequem werden, wird man uns ernst nehmen.
Dora Asemwald bloggt seit 2007 über Stuttgart, Kultur, Politik und ergründet das Grenzgebiet zwischen virtueller und materieller Realität. Die 1975 geborene Stuttgarterin betreibt unter anderem eine Galerie und ist die Begründerin der Initiative Loch 21. |
Foto: Martin Zentner