Von Deborah Brinkschulte.
Die Lagen am Neckar in Stuttgart haben durch die historisch überwiegend industrielle Zwecknutzung des Flusses wenig Aufenthaltsqualität. Verstärkt durch – zugegebenermaßen folgerichtig angelegte – Verkehrstrassen und weitläufige Industrie- und Kraftwerksanlagen wirkt der Neckarraum heute mehr als Barriere denn als hochwertiger Stadtraum.
Bedingt durch den Wandel von der Industrie- zu einer Dienstleistungs- und Wissensgesellschaft als globalem Trend fallen im Neckartal vermehrt großräumig Flächen brach. Gleichzeitig profitieren eben diese Flächen zwischen Wasser und Weinbergen von einer hohen freiräumlichen Lagegunst, die momentan nicht ausreichend genutzt wird. Beide Voraussetzungen – zunehmendes Flächenpotenzial bei gleichzeitig hohem vorhandenden Freiraumpotenzial – bieten große Chancen für eine Umstrukturierung und Umnutzung, die der Lage gerecht wird und die den Stuttgartern (Er-)Lebensqualität am Wasser bietet.
Die Stadträume, die unser Fluss durchfließt, sind ganz unterschiedlich. Sie reichen von einem Industrie- und Produktions- sowie Hafenstandort in den oberen Neckarvororten Untertürkheim, Obertürkheim, Hedelfingen und Wangen über einen urbaneren mittleren Bereich um Bad Cannstatt und den Randbereichen von Stuttgart-Ost und -Nord bis hin zu den fast schon dörflich anmutenden und landschaftlich reizvollen unteren Neckarvororten Münster und Mühlhausen. Alle diese Bereiche tragen zu einer vielfältigen Stadt bei und ergänzen sich.
Ein Gesamtkonzept – als Vision für das gesamte Stuttgarter Neckartal, der man sich dann im Rahmen dieses Plan dann sicher Stück für Stück annehmen kann, anstelle eines kleinteiligen Flickwerks ohne übergeordnetes Ziel – böte die Chance, alle Stadtteile am Neckar sowie deren individuelle Charaktere, Stärken und Potenziale herauszuarbeiten und diese mit den Chancen neu entstehender Quartiere zu kombinieren. So kann mit dem Neckar als verbindenden Element eine gemeinsame Identität der Stadtteile am Fluss entstehen, ohne dass deren Individualität und Profil – die sie sich trotz der Eingemeindung in weiten Teilen erhalten haben – verloren gehen.
Unabhängig von diesen stadtteilbezogenen Themen sollte der Fluss unbedingt zur Lebensader der Stadt werden. Dabei spielt es keine Rolle, dass der Fluss nicht wie in anderen Städten zentrumsnah gelegen ist. Auch ohne Nähe zum Stadtkern ist das Neckartal dicht besiedelt und vielfältig genutzt, sodass eine bunt gemischte Bürgerschaft und vielfältige Einrichtungen von einer Re-Integration des Flusses in Form eines Begegnungsraums anstelle der bestehenden Grenze profitieren würden. Daher spielen der Abbau der Barrierewirkung, eine Reihe neuer Querungsmöglichkeiten sowie die Nutzbarkeit der Ufer eine besondere Rolle. Im Rahmen eines Gesamtkonzepts bietet das Neckartal mit seiner Vielfalt zahlreichen Themen Platz. Neben der Optimierung des vielgestaltigen vorhandenen öffentlichen Raums können hier verschiedene Nutzungen angesiedelt werden. Großräumige Potenzialflächen bieten die Chance, völlig neue Quartiere zu entwickeln und innovative Konzepte auszuprobieren.
In anderen Maßstabsebenen kann beispielsweise das Thema Wasser als Energieträger für Kraftwerke oder passive Energiekonzepte eine Rolle spielen, in wieder anderen das Thema Mobilität und Transport – bezugnehmend auf die Schifffahrt, das Daimler-Werk, aber auch das Museum – am und auf dem Fluss. Das Neckartal könnte – das Grüne Klassenzimmer am Max-Eyth-See aufnehmend – als Wissenslandschaft begriffen werden, durch das sich unterschiedliche Klassenzimmer zum Thema Wasser aufreihen. Auch in anderen Bereichen sind Anfänge gemacht: beispielsweise das Theaterschiff als Vertreter der Kultur, Rudervereine und das Inselbad aus dem Bereich Sport. Die Liste ließe sich fortsetzen.
Welche der Themen nachher unsere etwa 20 Kilometer Flussabschnitt prägen, vermag ich heute nicht zu sagen. Aber ich wünsche mir, dass wir das jahrelange Vernachlässigen des Flusses und den dadurch entstandenen dringenden Handlungsbedarf gemeinsam als Chance für Neues begreifen, aber auch dass wir Vorhandendes im Wissen um seine Geschichte weiterentwickeln statt zu überplanen.
Erste Ansätze hierfür könnten Neckar-Aktionstage oder ein Fluss-Festival sein, bei denen Stadtteile, Initiativen und Bürger sich beteiligen können. Als einen Schritt der Vernetzung. Als einen Schritt der Rückeroberung. Als einen Schritt der Aneignung. Und als einen ersten Schritt des Entwickelns einer gemeinsamen Vision.
Für eine Umsetzung wünsche ich mir, dass ein Gesamtkonzept entwickelt wird ohne das Thema Geld an erste Stelle zu setzen. Weil ich daran glaube, dass eine überzeugende Vision und eine engagierte Stadt auch die Bürgerschaft motiviert und hier partnerschaftlich gemeinsam viel erreicht werden kann. Weil Bundes- und Landesgartenschauen schon andere Stuttgarter Freiräume geprägt haben. Weil eine Internationale Bauausstellung eine Chance für den Neckarraum sein kann. Und vor allem weil ein Gesamtkonzept erlaubt, zielgerichtet Teilräume zu entwickeln, um der Vision Stück für Stück und Schrittchen für Schrittchen näher zu kommen.
Deborah Brinkschulte studierte von 2006 bis 2011 Architektur und Stadtplanung an der Universität Stuttgart. Wann genau sie ihre Faszination für den Neckar entwickelte, kann sie nicht mehr genau sagen. Ganz sicher hing es aber mit ihrem Umzug in die Cannstatter Altstadt zusammen und damit, dass ihre besten Freundinnen in Tübingen beim Eis essen ihre Beine in den Necker hängen konnten und sie nicht. Gleichzeitig wurde ihr Bedürfnis, die Stadt, in der sie lebt, mitzugestalten größer. 2011 hat sie schließlich eine Diplomarbeit zum Thema Stuttgart am Neckar verfasst. Seit 2010 setzt sie sich in einem Stuttgarter Büro mit Stadtplanung in ihren unterschiedlichen Facetten auseinander. Als Honorarlehrkraft am Städtebau-Institut der der Uni Stuttgart begleitet sie zusätzlich angehende Stadtplaner in einem Projekt zum Thema Stadt am Fluss. |
Titelfoto: Thorsten Puttenat