Stuttgart wurde nach dem Leitbild einer autogerechten Stadt gebaut. Heute ist Stuttgart – neben Köln – die Stau-Hauptstadt Deutschlands. Das führt zu verstopften Straßen, Parkplatzmangel und Emissionen, die das Stadtklima belasten und unsere Gesundheit gefährden. Während das Netz des ÖPNV in Stuttgart und in der Region in den vergangenen Jahrzehnten stark ausgebaut wurde, hinkt Stuttgart beim Ausbau der Radverkehrswege anderen Städten hinterher, obwohl die Anzahl der Fahrradfahrer auch in Stuttgart stark zunimmt. Dr. Ralph Schertlen, Gemeinderat der Stadtisten im Stuttgarter Rathaus, erzählt uns im Interview, wie er die Situation der Fahrradfahrer in Stuttgart beurteilt und wo er konkreten Handlungsbedarf sieht.
Ralph, Du fährst seit über einem Jahr regelmäßig bei der Critical Mass in Stuttgart mit. Was bewegt Dich, daran teilzunehmen?
Ich finde es ein ganz nettes Event, um mit anderen Radfahrern ins Gespräch zu kommen. Vor allem finde ich es aber ein wichtiges Zeichen für den Radverkehr. Dass man die Präsenz und die Anzahl der Radfahrer in der Stadt zeigt. Bei der Critical Mass sind ja nur ein paar Hundert am Start, die sich Freitagabend die Zeit nehmen mitzufahren. Aber das macht dann doch deutlich, dass in Stuttgart viele Radfahrer unterwegs sind und meiner Meinung nach auch, dass deren Anzahl deutlich steigt. Ich denke, dass die Critical Mass ein gutes Zeichen ist. Sie ist keine Form von Protest meiner Meinung nach, sondern einfach: Präsenz zeigen. Man fährt durch die Stadt und man wird wahrgenommen: von Fußgängern und von Autofahrern an der Ampel, weil man als Pulk durchfahren kann und einige Grün-Rot-Phasen für sie ins Land gehen. Aber dann sehen sie, wie viele Leute auf dem Fahrrad unterwegs sind.
Dieses Präsentsein heißt andererseits auch, dass der Radverkehr beim Stadtplanungsamt oder Tiefbauamt noch nicht so auf dem Schirm ist, wie er es eigentlich sein sollte. Die Critical Mass ist dann schon ein Hinweis in Richtung Stadtverwaltung, mehr und vor allem bessere Radwege zu bauen, weil die Radfahrer auch ihren Platz brauchen. Und auch ein Wink, um Sicherheit zu schaffen, wenn man zum Beispiel an so etwas denkt wie im Schlossgarten um das Planetarium herum, wo Konflikte mit Fußgängern durch die Wegführung vorprogrammiert sind. Deswegen Critical Mass: Um zu zeigen, dass man als Radfahrer präsent ist. Dass man jemand im Straßenverkehr ist, der ernst genommen werden will und auch sollte.
Du bist gerade auf die Situation hier in Stuttgart kurz eingegangen. Wie beurteilst Du generell die Situation der Radfahrer in Stuttgart?
Hahaha (lacht laut), kann man in einem Wort sagen: Sch… (lacht laut). Schlecht, ganz einfach schlecht. Da kann man nicht drum rum reden. Die Radwege fangen nach Belieben irgendwo an oder es wird einer irgendwo hin definiert wie diese traurige Geschichte mit „Fußweg frei für Radfahrer“. Oder es gibt dann irgendwo einen hingepinselten Streifen für einen Radweg, der dann im Nichts endet oder eine unklare Wegführung hat.
Ein weiteres Beispiel ist der Charlottenplatz: Da ist für Radfahrer das Linksabbiegen auf die Autospuren verboten. Das heißt, man hat das Vergnügen sich in drei Ampelphasen um die Kreuzung zu jonglieren. Was auch oft der Fall ist: Zugeparkte Radwege durch Autofahrer. Und da passiert einfach nichts. Weder sieht man, dass da mal ein Strafzettel dran hängt, noch dass die vom Radweg entfernt werden.
Ansonsten muss man auch unterscheiden zwischen Berufsverkehr-Radfahrern und Freizeit-Radfahrern. Wenn man den Radweg am Neckar entlang als Beispiel nimmt, der mit Fußgängern geteilt wird, der ist für Wochenend- und Freizeitfahrer so là là okay. Oder durch den Schlosspark, da schaukelt man sich mit seinem Rad durch die Gegend und das ist auch okay. Aber wenn ich an die Berufsverkehr-Radfahrer denke, da kann man nicht erwarten, dass diese sich in dem Maße mit den Fußgängern den Weg teilen, wie es in der Stadt durch die „wilde“ Wegeführung vorgegeben ist. Es gibt da unglaublich viel Verbesserungspotenzial.
Wenn man die Anbindungen in die Region hinein nimmt: Andere Ballungszentren reden von Radfernwegen. Das würde für mich heißen, dass man von Esslingen, von Böblingen, von Ludwigsburg, von Waiblingen auch ein Netz hat, das durch Stuttgart durchgeht und es den „Transitpendlern“ ermöglicht, gut durchzukommen. Das steht in weiter Ferne. Bei dem Geld, das für die Radwege-Infrastruktur zur Verfügung steht, wirklich in weiter Ferne und die Ist-Situation ist ganz einfach schlecht.
Auf der Webseite der Stadt Stuttgart steht, dass sich die Stadt das ehrgeizige Ziel gesetzt hat, dass der Radverkehr langfristig 20 Prozent des Gesamtverkehrs ausmachen soll (Schertlen lacht) und dass 180 km Radwege zur Verfügung stehen – mehr als doppelt so viel wie vor 20 Jahren.
Die 180 km kann man sich sicherlich so zusammenrechnen, wenn man alles nimmt, was als „für Fahrräder frei“ markiert ist. Es ist ja schon bezeichnend, dass sich die Anzahl der Fahrradwege in den letzten 20 Jahren nur verdoppelt hat. Runtergerechnet entspricht das einer linearen Steigerung von fünf Prozent. Wenn man in dem Tempo weitermacht, können wir uns ausrechnen, dass wir in hundert Jahren noch nicht dort sind, wo wir hinmüssten.
Der Anteil des Radverkehrs in Stuttgart beträgt momentan um die sieben Prozent. Herr Kuhn hat vor seiner Wahl das Ziel von 20 Prozent Radverkehr ausgegeben. Ein Betrag von 1,8 Millionen Euro Radverkehrsetat jeweils für die Jahre 2014 und 2015 im Doppelhaushalt spricht einfach Bände. Man nimmt den Radverkehr einfach immer noch nicht ernst. Für die Jahre 2016 und 2017 soll der Etat verdoppelt werden. Das ist als Zeichen in die richtige Richtung schon mal zu deuten, aber bei weitem noch nicht ausreichend für den immensen Nachholbedarf, den wir in Stuttgart haben. Ich habe einen Antrag auf 15 Millionen Euro für 2016 und 20 Millionen für 2017 gestellt. Das entspricht etwa 20 Prozent dessen, was für den Straßenverkehr insgesamt in den Haushalt eingestellt wird.
In welchen Punkten siehst Du konkreten Handlungsbedarf?
Ich sehe vorwiegend Handlungsbedarf im Ausbau des Radwegenetzes. Also dass man gut fahrbare Schnellverbindungen schafft, die sinnvoll die Stadt durchkreuzen. Ich könnte mir als eine Maßnahme auch vorstellen, dass man einige Tempo-30-Straßen als Fahrradstraßen definiert und da nicht groß in den Umbau von sonstigen Verkehrsachsen investiert. Das war ja zum Beispiel das Streitthema mit der Nürnberger Straße in Bad Cannstatt, bei der man eine Autospur weggenommen und dafür eine Radspur angelegt hat, die zugegebenermaßen nicht so intensiv genutzt wird, wie man es sich vielleicht erhofft hat. Tatsächlich fahren alle eine Straße weiter im Wohngebiet, die sie schon eh und je gefahren sind.
Ich sehe klar Handlungsbedarf im Radwegebau, also in der Neuanlage von Radwegen oder auch im Umbau von diesen unglücklichen Gemeinschaftswegen für Fußgänger und Radfahrer dahingehend, dass man einen Teil für Radfahrer abtrennt oder wirklich auf Straßenniveau legt. Denn die einzige natürliche Grenze, die ein Fußgänger in seinem „Traumlaufen“ erkennt, ist der hohe Bordstein und nicht irgendeine Linie, die hingemalt ist und nicht irgendeine rote Fläche, die als Radweg gekennzeichnet ist.
Man muss an vielen Stellen ansetzen. Beispiel Schlaglöcher: Mal haut es einen ordentlich auf dem Fahrrad zusammen, mal fliegt Zeug vom Gepäckträger herunter. Also in der Hinsicht besteht wirklich Bedarf an baulichen Maßnahmen.
Kürzlich wurde der Spatenstich für den Bau der Downhill-Strecke in Stuttgart gemacht. Du hast dich auch an den Arbeiten daran beteiligt. Weshalb ist Dir dieses Thema so wichtig?
Mir ist es aus verschiedenen Gründen wichtig: Zum einen finde ich, haben die Jungs, die sich für die Strecke einsetzen, jahrelang mit der Verwaltung gerungen und sich jahrelang als zuverlässiger Verhandlungspartner dargestellt. Die ständigen Verschiebungen des Baubeginns fand ich ein unschönes Zeichen, weil man so nicht mit Leuten umgeht, die sich engagieren.
Zum anderen, ich nehme ungern das Wort „Befriedung“ in den Mund, weil das würde aktuell bedeuten, wir hätten Krieg im Wald. Es gibt sicherlich hier und da Konflikte im Wald und von dem her begrüße ich, dass die Downhill-Strecke gebaut wird, weil dadurch die Reviere ein wenig voneinander getrennt werden. Das heißt, die Spaziergänger haben ihre Wege, ihre Plätze, auf denen sich die Fahrradfahrer auch nicht freiwillig tummeln, sondern sie werden mit dem Bau der Downhill-Strecke davon wegbleiben. Dann hoffe ich auch, dass die Spaziergänger so schlau sind, nicht auf der Downhill-Strecke zu spazieren. Von dem her finde ich es gut, dass man die Konflikte, die es im Wald teilweise gab, nun etwas entschärft. Und ich bin auch wie Jannick Henzler, der Sprecher der Downhill AG, der Meinung, dass diese verlockende Strecke kanalisiert. Das heißt, viele Teile des Waldes, auf denen man als Fahrer grenzlegal bis illegal unterwegs ist, werden sicherlich deutlich entlastet. Das bedeutet nicht, dass gar niemand mehr darauf fährt, aber für die Fahrer wird es attraktiver sein, die Downhill-Strecke zu nutzen.
Ich finde es einfach toll für die Stadt Stuttgart. Denn welche andere Stadt hat eine Downhill-Strecke mitten in der Stadt? Damit könnte man wirklich hausieren gehen. Ich bringe mich ein, weil ich ein Zeichen setzen will. Ich bin jetzt nicht der Downhiller vorm Herrn, sondern fahre allgemein Mountainbike. Ich werde daher diese „Chicken-Trails“ nehmen, also die Wege, die zum Teil um die Hindernisse führen. Aber ich werde herunterfahren und auch meinen Spaß haben und ich finde es eine klasse Sache, dass man in Stuttgart so eine Strecke bekommt.
Was hast Du vor Ort genau gemacht?
Erde bewegt (lacht). Ich habe Schubkarren voll geschaufelt und sie woanders ausgekippt. Ich habe 20 bis 30 Kilo schwere Steinklötze an die entsprechenden Stellen gehievt oder ein Stück den Berg heruntergekugelt, bis sie dort waren, wo sie hin sollten. Ich habe also bei den alltäglichen Bauarbeiten Hand angelegt, was halt so anfällt (lacht).
Am Ende unseres Gespräches, möchtest Du noch etwas hinzufügen, das wir noch nicht angesprochen haben?
Da wird von mir noch ein Antrag für das Energiekonzept kommen, weil Fahrradfahren zweifellos ein Energiethema darstellt . Ein Energiekonzept umfasst ja nicht nur Heizung-, Strom- und Gasverbrauch in der Stadt, sondern auch die Bewegungsenergie, also auch den Spritverbrauch von Autos in der Stadt oder die U-Bahnen. Damit sind wir an dem Punkt, dass wenn ich Fahrrad fahre, ich deutlich weniger Energie brauche, als wenn ich Auto fahre.
Um Radfahren attraktiver zu machen, gerade für die Zielgruppe Berufsverkehr-Radfahrer, wäre mir noch wichtig, dass man mindestens in städtischen Gebäuden eine Dusch- und Umkleidemöglichkeit für Radfahrer schafft. Das wäre noch ein Thema, das auch zum Radverkehr in Stuttgart dazugehört.
Zum Schluss: Dadurch, dass man als Radfahrer Präsenz zeigt und damit signalisiert, dass es in Stuttgart trotz der Umstände möglich ist Rad zu fahren, nimmt man eine Art Vorbildfunktion ein und macht dem einen oder anderen Mut umzusteigen.
Vielen Dank für das Gespräch.